Warum ich die Bücher von Gerd Kommer nicht meinen Freunden und Kollegen empfehle
Schon seit der Schulzeit interessiere ich mich für Volkswirtschaft und Finanzmärkte.
Trotzdem beschäftige ich mich mit dem personal finance Thema erst seit einigen Jahren, mangels Kapitals aktiv aber erst seit wenigen Monaten.
Drauf gekommen bin ich quasi per drive-by beim Rumklicken auf Reddit. Dort habe ich das /r/Finanzen Subreddit gefunden, welches stark für die Investition in breit diversifizierte ETFs mit geringen laufenden Kosten trommelt.
Wenn man im Laufe der Zeit mehrere der (relativ gleich verlaufenden…) Diskussionen verfolgt hat, merkt man immer mehr, dass der Großteil der aktiven User jedoch verquere Vorstellungen von Wirtschaft und Aktienmärkten hat. Mit der Zeit entwickelte sich bei mir eine regelrechte Abneigung gegen dieses (immer mehr an Einfluss gewinnende) Finanzforum im speziellen, und ähnlich gelagerte Foren mit ähnlich gelagerten Problemen im Allgemeinen.
Neben einigen Meme-ETFs wird regelmäßig auch die Finanzliteratur von Gerd Kommer gepusht. Konkret der Ratgeber “Souverän Investieren mit Indexfonds und ETFs”. Irgendwann wurde ich neugierig und habe das Buch gelesen. Mehr oder weniger für die Memes. Ich habe ehrlich gesagt nicht viel erwartet, bin also schon vorbelastet in die Lektüre rein gegangen.
Die gute Nachricht zuerst: Im Grunde genommen gehe ich mit dem meisten was Herr Kommer in seinem Buch schreibt d’accord. Mir wurde bei der Lektüre jedoch auch bewusst, dass dieses Buch sicherlich zu den Verwirrungen der Poster in diesem (und auch anderen) Foren beigetragen hat, die in der Präsentationsform begründet liegen.
Diese Rezension bezieht sich auf die “4. aktualisierte Neuauflage” von 2015. Seit 2018 ist die neue 5. Auflage für 32 € im Handel erhältlich und hat die ISBN 978-3593508528.
Kernthesen in der Bleiwüste
Gerd Kommer vertritt grob betrachtet die folgenden Hauptthesen, welche im Grunde klassische Portfoliotheorie wiedergeben:
- Die Finanzmärkte sind grundsätzlich informationseffizient.
- Es ist nicht möglich, den Markt zuverlässig zu schlagen. Für Privatanleger schon gar nicht.
- Diversifikation über Märkte, Asset-Klassen und Zeit reduziert die Volatilität (das “Risiko”) des Portfolios.
- Externe Belastungen durch Gebühren, Ausgabe-/Rücknahmeaufschläge, laufende Kosten und Steuern drücken garantiert die Rendite um einen fixen Betrag. Niedrige Kosten sind ceteris paribus daher zu bevorzugen.
Diese Thesen reichen eigentlich schon, eine vernünftige Anlagestrategie aufzubauen. Natürlich in Kombination mit gesundem Menschenverstand: Man muss grundsätzlich weniger ausgeben als man einnimmt. Schuldentilgung gibt den gesparten Zinssatz als risikofreie Rendite, usw.
Diese Kernaussagen werden jedenfalls durch langwierige Erläuterungen, historische Betrachtungen und logische Begründungen ausgeschmückt, sodass am Ende inkl. Inhaltsverzeichnissen, Literaturangaben und Appendices knapp 400 Seiten raus kommen.
Diese einfachen Kernaussagen werden durch den bloßen Umfang an Beiwerk sehr stark verwässert. Wenn man o.g. Internetforen anschaut, scheint es für absolute Neulinge auch nicht leicht möglich zu sein, diese Thesen aus der Textmenge herauszuarbeiten. Wichtige strategische Ratschläge wie die sehr sinnvollen “Zwanzig Gebote für rationale Anleger” am Ende des Buches können leicht überlesen werden, da sie vom Rest der Abhandlung logisch eher losgelöst wirken. Der episodische Aufbau, der alles in kleine Häppchen aufbaut und zum Springen verleitet mag da auch kontraproduktiv sein.
Auch erklärte Kommer-Fans eifern so dem exponentiellen Wachstum des Depots nach, in der Hoffnung sich in finanzieller Unabhängigkeit früh zur Ruhe setzen zu können (neudeutsch “FI/RE”, “Financial Independence/Retire Early”). Obwohl Kommer klar beschreibt, dass der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer noch 10 Jahre vor der Rente den größten Teils des Nettovermögens in Form seiner noch einzulösenden Arbeitsleistung besitzt (siehe Seite 242). Eine Finanzstrategie basierend auf einer realistischen Einschätzung ist dies also nicht, es ist aber verständlich, die wichtige Einordnung in diesen wenigen Zeilen zu übersehen.
Beispiel: Der Risikobegriff
Als stellvertretendes Beispiel möchte ich auf das Kapitel 1.10 “Risiko richtig verstehen” verweisen: Kommer beginnt mit einer Erläuterung des umgangssprachlichen Risikobegriffs:
»Risiko ist die Möglichkeit, dass Sie an einem bestimmten Zeitpunkt weniger liquide Geldmittel zur Verfügung haben, als Sie es bei Ihrer ursprünglichen Investitionsentscheidung erwarteten« oder, salopp, aber treffend: »Bad returns in bad times«
Dieser “umgangssprachliche” Risikobegriff ist offensichtlich für den Anleger von existentiellem Interesse, und steht im Zentrum der individuellen Anlagestrategie. Kommer wandelt den Rest seiner Abhandlung jedoch in die Betrachtung der verschiedenen mathematischen Maße für Volatilität (bspw. Standardabweichung, Sharpe Ratio), und primär vom Individuum losgelöster Anlagerisiken (wegdiversifizierbar oder strukturell). Der Leser kommt hier unweigerlich in die Gefahr, die Anlagerisiken mit den persönlichen wirtschaftlichen Risiken gleichzusetzen, zumal im Rest des Buches der Begriff des Risikos fast immer mit Volatilität gleich gesetzt wird. Dies ist natürlich fatal für die eigene Anlagestrategie, da die Verwundbarkeit gegen Verluste natürlich auch bspw. von persönlichen Lebensfragen, Verpflichtungen, etc. abhängt.
Tatsächlich habe ich folgendes immer wieder online beobachtet: Aktien werden zum de facto risikofreien Anlageprodukt verklärt. Die “persönliche Risikotoleranz” gleichsam zu einer Charaktereigenschaft, losgelöst von der wirtschaftlichen Situation; wer einen 40-prozentigen Kurssturz nicht ertragen kann hat nur schwache Nerven. (Gerne auch “typisch deutsch!” tituliert, da Deutsche so viel Geld im Tagesgeld haben.) Dies resultiert auch in einer starken Verengung des Fokus auf sehr wenige Anlageprodukte, weil natürlich nach Ausblendung des Risikos nur noch auf Rendite geschaut wird (bspw. ist auf /r/Finanzen der Meme-Status der WKN A1JX52 legendär). Des Weiteren führt dies dann dann zu Auswüchsen wie der Abneigung von Anleihen aller Art, aber in einem Aufbegehren des gesunden Menschenverstands zu einen überdimensionierten “Notgroschen” von bis zu 12 Monatsgehältern auf dem Tagesgeldkonto. Alle diese in Finanzforen grassierenden Punkte führe ich auf fehlendes Risikoverständnis zurück. Besonders das Verhältnis eines Risikomaßes zur Wahrscheinlichkeit beim Abschwung aufgrund der finanziellen Situation eine problematische Entscheidung treffen zu müssen, bspw. im Tiefpunkt volatile Aktien zu verkaufen.
“Querulantenpornografie”
Das Buch trägt den Untertitel “Wie Privatanleger das Spiel gegen die Finanzbranche gewinnen”. Die Zielgruppe ist hier schon klar: Man richtet sich an den kleinen Mann, der den “Masters of the Universe” der Finanzbranche stets Misstrauen entgegen bringt.
Das Buch gliedert sich in fünf Teile:
- Eine grundlegende Erläuterung von Finanzmärkten. (In den Worten des Autors: Wie diese “tatsächlich funktionieren”.)
- Die Auflistung von “18 verhängnisvolle[n] Anlegerfehler[n]”.
- Vorstellung der “Indexing”-Strategie.
- Ein HowTo zur Implementierung dieser Indexing-Strategie.
- Ein Kapitel zur Erläuterung, was man tun soll, wenn der Bankberater Indexing voll doof findet oder Dirk Müller einem vom Pfad des Erleuchteten abbringen will.
Zwei von fünf Sektion dienen also vor allem dazu, weit verbreitete Anlagestrategien zumindest kritisch zu beleuchten, tatsächlich aber auch (wenn auch sanft) polemisch durch den Kakao zu ziehen. Inwiefern eine solche Flapsigkeit zielführend ist, bleibt zu bezweifeln. In der Tat macht Herr Kommer aus dieser Absicht auch keinen Hehl, und erklärt explizit, dass er mit seinem Buch Anleitung geben will, “wie man sich gegen die Desinformation durch Finanzbranche und Medien immunisiert”.
Ich stimme Herrn Kommer zu, dass die “kostenlose” Finanzberatung der Banken, Sparkassen etc. oft nicht dem Vorteil des Anlegers gereicht. Eine gewisse Grundbildung in Finanzthemen ist daher ein wichtiges Investment das jeder Mensch tätigen sollte. Jedoch habe ich auch hier online beobachtet, dass die Ablehnung der Bankberatung (zu der offensichtlich niemand gezwungen wird) schon komische Züge annimmt. Dem einfachen Bankangestellten boshaften Eigennutz zu unterstellen, weil er Menschen, die sich aus Bequemlichkeit nicht mit Finanzprodukten beschäftigen wollen, nicht zu passiv gemanagten Anlagen treibt, geht schon zu weit. Insbesondere wenn die eher wirtschaftsliberal geprägten Kapitalanleger sonst immer die Eigenverantwortung des Einzelnen betonen, und Kosten für Bequemlichkeit in jedem Wirtschaftszweig üblich sind.
Die Aufmachung will ich in Anlehnung des von Kommer eingeführten (und in meiner Meinung ziemlich pfiffigen) Begriffs der “Finanzpornographie” dann eben “Querulantenpornographie” nennen. Es wird versucht ein Bild von “David gegen Goliath” zu erzeugen, in dem der Privatanleger den übermächtigen Banken durch Bauernschläue ein Schnippchen schlägt. Ich finde hier wird regelmäßig die Grenze zur Flapsigkeit überschritten.
Ich musste immer schmunzeln, wenn ich zwischendurch Quellenangaben eingestreut sah (obwohl diese keineswegs so dicht gesät sind, dass wirklich alle Fremdgedanken gekennzeichnet werden. Das ist aber auch in Ordnung, am Ende erklärt Kommer ja einfach grundlegende und allgemein in Lehrbüchern dargelegte Portfoliotheorie, und es ist keine Doktorarbeit.) Weiterhin sind die ca. 50 Kapitel des Buches alle mit einem schlauen Zitat von Führungspersonen des Finanzsektors, Wirtschaftsnobelpreisträgern oder Starinvestoren überschrieben, die jeweils den Inhalt des Kapitels aufgreifen.
Es ist ziemlich klar, dass diese Referenzen vermutlich einfach bewusstes oder unbewusstes name dropping sind, die dem Werk einen gewissen Nimbus geben sollen und sich mit Fremdautorität schmücken. Ich denke nicht, dass Herr Kommer wirklich denkt, dass die angesprochene Klientel des Buchs die Quellenangaben wirklich verfolgen würde. Wirklich strukturierte Impulse zur weiteren Recherche bietet das Sammelsurium von Spartenbeiträgen in der Bibliographie meiner Meinung nach nicht, man ist eher mit allgemeinen Lehrbüchern beraten. Herr Kommer gibt hier leider keine Impulse in diese Richtung, die “Lesetipps” hinter der wissenschaftlichen Bibliographie ist eine Sammlung von weiteren Ratgeberbüchern und Internetseiten mit begrenzter Tiefe.
Fazit
Wie bereits einführend angedeutet ist der Ratgeber nicht falsch, aber sicherlich irreführend für die Einsteiger, die das Buch offensichtlich als Klientel hat. Ein Anleger mit Grundlagenwissen in Volkswirtschaftslehre profitiert von der Fleißarbeit, die Herr Kommer investiert hat, wenn er beispielsweise historische Daten und Korrelationen zwischen Asset-Klassen erläutert. So war ich beispielsweise verblüfft von der Illustration des Diversifizierungseffekts anhand des (im Nachhinein natürlich schnell einleuchtenden) Sachverhalts, dass die allgemein eher riskant bewerteten Small-Cap-Aktien die Volatilität eines Depots von allgemein sehr sicher bewerteten Bundesanleihen tatsächlich noch weiter senken würden.
Tiefer greifendes Sachwissen, wie bspw. den operativen Aufbau eines klassischen ETF und der im Hintergrund verwendeten Produkte, findet man hier leider nicht. Ebenso fand ich die Begründung der mathematischen Sachverhalte recht unbefriedigend. Gewisse Verteilungen werden einfach vorausgesetzt, aber dann nicht einmal erwähnt ob diese empirisch oder durch zu Grunde liegende Theorie zustande kommen. Hier werden auch Neulinge meiner Meinung nach unterfordert und führen dann beim “Weiterdenken” der Sachverhalte zu unzulässigen Extrapolationen.
Der Ratgeber ist so am Ende ein Buch ohne Publikum. Für Einsteiger nicht empfehlenswert (oder nur mit kompetenten Sparringpartner, der Fehlinterpretationen berichtigt), für Fortgeschrittene zu dünn, und zu mühselig, die hohe Kompetenz von Gerd Kommer aus der Polemik zu extrahieren.
Ja aber was mache ich jetzt mit meinen Millionen auf dem Girokonto?
Einen schnellen Einstieg in Finanzstrategie und empfehlenswerte Finanzprodukte bieten meines Wissens nach die (auch von Gerd Kommer in seinen “Lesetipps” empfohlene) Webseite des “Finanzwesirs” Albert Warnecke. Die Blogposts auf dieser Seite sind deutlich besser in sich abgeschlossen. Sie sind ebenfalls in einem leicht saloppen Umgangston verfasst, aber im Gegensatz zu den polemisierenden Abschnitten im Buch von Gerd Kommer nicht so dass der Sinn verloren geht.
Der Fokus liegt hier nicht nur auf der Bewertung der Finanzprodukte, sondern auch im Aufbau einer für die Lebenssituation und Lebensziele geeigneten Finanzstrategie. Die Angebote des Bankkaufmanns vor Ort werden nicht verteufelt, sondern es wird erklärt, warum diese in der Regel ungeeignet sind, und welche Alternativen man als bereits “verdorbener Kunde” wählen kann um sein Portfolio zu optimieren.
Als Einführung in die Finanzmärkte mag ich das Lehrbuch “Finanzmärkte - Eine praxisorientierte Einführung” von Herbert Sperber aus dem Schäffer-Poeschel-Verlag in den Raum werfen, welches die wichtigsten Finanzinstrumente und deren Zusammenspiel (unabhängig vom ETF-Thema) auf ca. 150 Seiten beleuchtet und lehrbuchtypisch mit Lern- und Verständnisaufgaben gespickt ist, sodass es zum Selbststudium besser geeignet ist.
Als noch grundlegendere aber sehr verständliche Einführung in Volkswirtschaftslehre im Allgemeinen gibt es “Volkswirtschaft verstehen” von Bernhard Beck aus dem Vdf Hochschulverlag.
So gerüstet kann man dann auch relativ bedenkenlos den Kommer lesen.
Gerd Kommer
Souverän investieren mit Indexfonds und ETFs
Wie Privatanleger das Spiel gegen die Finanzbranche gewinnen
Campus Verlag, 4. Auflage, 2015
ISBN 978-3-593-50454-4